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Weißenhaus
Weißenhaus - Nachtgedanken

Marius Gugg blickt mit Wehmut zurück auf die alten Zeiten in Weißenhaus und lässt seine Gedanken um die Veränderungen an diesem Spot kreisen

Immer öfter verfallen wir in ein Schweigen, und angenehme Stille vermischt sich mit Motorengeräusch. Jeder ist in sich selbst versunken. Ab und zu schweift mein Blick in das Dunkle der Nacht hinaus. Schwarze Umrisse von Wald und vereinzelten Häusern huschen an uns vorüber, als gelte es zu beweisen, dass wir uns noch immer vorwärts bewegen. Über uns der Mond, den ich zu erhaschen versuche, indem ich mich ganz dicht an das Fenster schmiege, um nicht mein eigenes vom Innenlicht fahl beleuchtetes Spiegelbild zu sehen. Aus Benjamins Lautsprecher kommt Musik, die ich nicht kenne. Punk, Deathmetal, was weiß ich. Ein monotoner Geräuschteppich jedenfalls, der durchaus seinen Reiz hat, um in dieser Situation nicht der Melancholie zu verfallen. Es ist eine wunderbare Nacht. Je höher wir nach Norden fahren, desto mehr meint man zu erkennen, dass sich der sonst so übliche Dunst in kristallklare Luft wandelt. Die Sterne scheinen klarer und die vereinzelten Wolken, die sich im Mondlicht abzuzeichnen beginnen, gewinnen immer mehr an Kontur. Wohlig vorwärtstreibende Einsamkeit, weiß man doch das belebte Haus als baldiges Ziel.

Immer wieder schweifen meine Gedanken ab und mit ihnen der Blick zum nächtlichen Schwarz des Himmels, als suchte ich dort Zuflucht vor einer mir fremd gewordenen Welt. Als könnte ich dort mich frei machen von Erinnerungen, Empörung, Liebe und Sehnsucht, diesem menschengemachten „Wahnsinn“. Und es ist eigenartig, dies nun zu schreiben, da man doch nur sich selbst rückwärts zu wenden scheint. Das Gute der vergangenen Zeit zum verklärenden Moment erhoben, an dem es festzuhalten gilt. Und dennoch: Wie belanglos scheint ein Wert, sollte man nicht das Bedürfnis haben, sich seiner zu erinnern: Weißenhaus.0)

Wer hätte gedacht, dass dieser Name, mit Wehmut verbunden, zum Symbol dumpf empfundener Tristesse wird, wie so vieles an der Ostsee, das sich vor wirtschaftlichem Eigennutz nicht zu verstecken vermag. Dieser Ort, der mehr versprach als nur Freiheit. Wie viel Geld, Ehrgeiz und Mühe muss es gekostet haben, Letztere zu zerstören, Schranken und Zäune errichten zu lassen, Hecken zu pflanzen. Man möchte jeden einzelnen Felsblock, der seitdem den Randstreifen der Straße säumt, jedes einzelne dieser unzähligen Parkverbotsschilder, jeden einzelnen Pflock des Zaunes mit einem Fragezeichen versehen. Zu viel, als das man diesem noch Verständnis entgegen bringen könnte.

Erschreckenderweise merkt man, wie fatalistisch, ja fast gleichgültig man diesem Wandel gegenübersteht. Da gibt es keine lauten Stimmen, keinen Protest, kein Graffiti. Wie gottgegeben das wirtschaftliche Interesse, das in seiner bloßen Existenz sich uns als gerechtfertigt erweist. Die Machtgläubigkeit an das erwirtschaftete Kapital, sie ist längst zum Kalkül jener geworden, die darüber verfügen. 7 Millionen Euro hat der Kauf von Weißenhaus gekostet. 50 Millionen Euro sind bereits investiert, um aus dem ehemals maroden Gutsdorf ein Ressort für Reiche der Extraklasse zu machen. Eine Ware mit Profit.1)

Wirtschaftlich gesehen, scheint alles seine Richtigkeit zu haben. Was aber bleibt, ist das Fragezeichen, dass man hat, wenn man plötzlich vor einem Zaun steht, der vorher noch nicht da war.

Im Fall von Weißenhaus kommt mir noch etwas anderes in den Sinn, etwas, das viel tiefer greift. Während die Reifen unseres Autos unermüdlich weiterdrehen, als wollten sie uns helfen, zu fliehen, weit weg von all dem, drängt sich mir in meiner Erinnerung immer wieder ein Bild auf. Erst flüchtig. Kaum greifbar. Dann plötzlich mit ganzer Macht.
0) Bis 2006 galt Weißenhaus in der Hohwachter Bucht als wirtschaftlich nicht „erschlossen“. Eine Seltenheit an der Ostsee. Ohne Parkplatzgebühren. Freiem Zugang zum Strand. Gaskochern und Wellenrauschen beim Einschlafen. Ein magischer Ort, der von Freiheit erzählte und von einem alten weißen Schloss.

1) Jan Henrich Büttner, Risikokapital-Investor und jetziger Eigentümer von Weißenhaus, er tritt als Retter auf und gleichzeitig als Visionär. Für ihn ist es ein Projekt mit vielen Zahlen, Renditen und möglichen Gewinnen. Mit Swimmingpools, Hotels, Restaurants und großen Jachten.
Venture Capital, so nennt sich das in der Fachwelt, dieses Investieren und wieder Abstoßen, mit dem man heute Geld machen kann. Irgendwie hört sich das alles nach Abenteuer an. J. H. Büttner hat sich dieses Prinzip zu eigen gemacht. Dieses Mal, so heißt es aber, sei es ein persönliches Anliegen, behaftet mit den Erinnerungen an seine Kindheit, als er noch selbst im Sand des Weißenhäuser Strandes spielte. Die klamme Kommune freut es. Insgeheim ist man vielleicht auch froh, dass es nicht der Chinese ist, der mitgeboten hat. Vielleicht aber hofft man auch auf das Menschliche eines groß gewordenen Kindes, das sich hier den eigenen Traum eines Reichenresorts erfüllt. Vielleicht hofft man, später Teil dieses globalen Spektakels sein zu können und nicht nur ein geduldeter Zaungast in einer Welt, die vorher die eigene war.

Das Hoffen und Bangen. Die Städte Kiel und Lübeck kennen es bereits:
„Die Macht der Millionäre“, so der Filmtitel einer Dokumentation von Gesine Enwaldt und Kersten Schüssler, sie zeigt die Ohnmacht des nordischen Kommunalpolitikers im wirtschaftlichen Interessenspiel. Oft mit Steuerbefreiung gelockt, erscheinen uns die Investoren wie Goethes helfende Protagonisten im „Zauberlehrling“. Da gilt es Haushaltslöcher zu stopfen, Arbeitsplätze zu versprechen usw.. Der Unterschied allerdings, ist der: es gibt keinen Lehrmeister, der alles beendet, sollte etwas schief gehen. Der öffentliche Raum, und mit ihm seine Gestaltung, wird nach und nach profitorientierten Investoren überlassen. Gleichzeitig verschiebt sich das Machtverhältnis zwischen Gemeindepolitiker und Geldgeber. Ersterer wird, aus Sorge um Stadt und Land, schlichtweg erpressbar.
Der Film zeigt hier eine grundlegende Problematik. Er wirft die Frage auf, inwieweit der Amtsinhaber einer Stadt oder eines Landes in der Lage dazu ist, die Interessen seiner Bürger zu vertreten.
Unabhängig von dem, was geschaffen wird, ob gut oder schlecht, was bleibt, ist die Frage nach Demokratie und Mitspracherecht.
Weißenhaus
Zwei Tage zuvor war ich in Weißenhaus. Auf dem Weg zum Strand kam ich an einem neu errichteten Restaurant vorbei. Und es war nur ein flüchtiger Blick über den Zaun, der mich zum Strandaufgang wies, und doch ließ er mich kurz innehalten. Und stutzen. Was ich erblickte, war auf seine Weise verstörend, obwohl es auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches zu sehen gab:

Ich sah Menschen hinter einer großen Glasscheibe. Fremde, mir neue Gesichter. Jedes mit einem Portemonnaie bewaffnet. Doch war es ein Moment der Erkenntnis, wenn auch fluktuativ, die Oberfläche einer parallelen Welt, einer uns scheinbar übergeordneten Wirklichkeit zu sehen. Dieser Augenblick, da sämtliche Diskurse philosophischer Abhandlungen über Sein und Freiheit, von Descartes bis Žižek sich auf diesen einen Moment zu bündeln schienen. Für den Bruchteil einer Sekunde gab er den Blick frei auf das Marxsche Konstrukt einer dialektischen Weltordnung, dessen Prophezeiung jedoch die Vernichtung war und nicht das eines alles beherrschenden Systems.2) Jetzt zeigte es sich, weniger abstrakt, in der Schwachstelle eines greifbaren Vor- und Nachhers. Entwachsen, autonom. Zu groß und komplex, als dass man es überblicken könnte: Ein nicht mehr kontrollierbares, und doch von uns selbst geschaffenes System, das das Leben zur Ware macht, zu einem Debordschen „Spektakel“3), zu einer uns übergeordneten zweiten Wirklichkeit.

Man könnte meinen, ich hätte sie gesehen, für einen Bruchteil der Sekunde: die schlafende Gesellschaft4). Schemenhafte Gestalten im komatösen Wachzustand. Sie waren gekommen, um zu konsumieren. Sie alle waren da, um sich ein Stückchen Rest verbleibende Freiheit durch das Fenster anzuschauen und dafür zu zahlen. Nicht wissend - und das ist der Kontext zu dem verstörenden Bild einer Glasscheibe, hinter denen sich Menschen aufhalten - dass eben jene Freiheit schon längst in Vollendung existierte. Eine real erlebte Welt ohne Verbote, Zahlungsaufforderungen und Animation.

Diese Gesellschaft, deren schemenhafte Gestalten nun im Restaurant sitzen. Um sie herum die tüchtigen Kellner. Diese Gesellschaft, die sich als freien Bürger träumt, weil sie die scheinbare Wahl hatte, die Ware Weißenhaus zu konsumieren, dieses Produkt, das sich ihnen an dem Tag als das schönste erschloss. Diese Gesellschaft nun, sie ist gekommen, um zu füttern, was sie ihrer eigenen Freiheit beraubt.

Und wir, die wir die Freiheit vorher kannten, wir füttern mit, wenn auch nur unbedeutend in diesem Millionengeschäft, müssen uns dem unterordnen, was da erschaffen wurde, wenn wir dort weiter surfen wollten. Die Wahl zwischen einem freiheitlichen Weißenhaus und dem zur Ware Gewordenen haben wir nicht. Und so sind wir Teil dieser erfundenen Nachfrage zu einem Angebot, das wir nie haben wollten.

Geparkt werden darf nur noch da, wo die Schranken und Automaten sind. Zäune verhindern den freien Zugang zum Strand und weisen trichterförmig zum Haupteingang hin, dessen Gipfelkreuz das Restaurant ist. Und direkt davor sind die Parkreihen limitiert, proportional zum Fassungsvermögen der Gastronomie. Die Ware Weißenhaus, sie erscheint uns plötzlich als ein höchst privilegiertes Produkt.

Gespielt wird auf Zeit, denn diese lässt vergessen. Neue Gesichter, auch im vermehrt modischen Sport, mit der ganz eigenen Gegenwartserfahrung, sie bestimmen das neue Werte-Empfinden5). Sie werden das Angebot gerne annehmen, denn sie kennen diesen Ort nicht anders.

Sollten wir uns also irren? Sollte also all das, was wir als Entwertung und Entfremdung empfinden, schlichtweg nur einen Prozess beschreiben, den wir als Wandel bezeichnen. Also als eine Werteverschiebung in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung? Sollen wir uns tatsächlich diesen Raum nehmen lassen?

In der Rhetorik steckt die Negation dieser Frage, aber gleichzeitig auch die Gewissheit, dass nichts sich ändern wird, solange es nicht einen höheren Profit verspricht.6)
2) Karl Marx (1818-1883) geht in seiner Theorie zum Kapitalismus davon aus, dass aufgrund seines ausbeuterischen Prinzips, dieser nicht lange bestehen könne. Die Revolution, von der ausgebeuteten Klasse ausgehend, sei unabdingbar. Man spricht hier von einem Determinismus. Das Ende des Kapitalismus wäre so geschichtlich vorherbestimmt. Die Gegenwart zeigt aber, dass es uns aufgrund sozialer Systeme nie besser ging. Hatte Marx sich etwa geirrt? Doch der Teufel steckt im Detail. Der Kapitalismus ist in seiner Komplexität monströser geworden, als Marx es sich je hätte vorstellen können. Adorno, Debord, sie haben es erkannt. Mittlerweile ist auch die Revolution von industriellem Interesse. Nicht diese also wird den Kapitalismus beenden, sondern sein eigenes auf Wachstum beruhendes Prinzip. Der Kapitalismus ist besiegt, wenn die bestehende Welt kollabiert und mit ihm untergeht.

3) Guy Debord (1919-1994) prägte erstmals den Begriff des Spektakels, indem er den Entfremdungsgedanken von Marx aufgriff und in seine Zeit übertrug. Er weist unter anderem auf eine naturentfremdete vom Warenfetischismus geprägte Welt. Heute zeigen z.B. Store Eröffnungen das Ausmaß dieses Marktmechanismus. Da wird der Akt des Kaufens zu einem Event gemacht, zu einem Spektakel. Zu einer Ware in der Ware.

4) In der kritischen Theorie (Frankfurter Schule *1924), stellt sich der Mensch, trotz Aufklärung, im Zeitalter der Postmoderne als gar nicht so frei heraus. Vielmehr als schlafend und traumatisiert. Die Kulturindustrie (z.B. Massenmedien) geben den Duktus des gesellschaftlichen Handelns und Denkens vor. Auch die Idee, frei sein zu wollen und vor allen Dingen anders als die Masse, wird als Ware erkannt. Konventionen zu brechen, heißt heutzutage in erster Linie sich industrieller Schablonen zu bedienen.

5) Jemand, der den Ort zum ersten Mal sieht, wird sich möglicherweise freuen, dass er bei einem Restaurantbesuch aufs Wasser schauen kann. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das auch der Grund seiner Restaurantwahl. Für ihn beginnt dort die Freiheit, wo er nicht beim Essen auf die Betonwand eines gegenüberliegenden Hauses blicken muss. Ähnlich verhält es sich mit der neuen Generation an Surfern. Die werden nicht sagen können, was schlecht an dem Bestehenden sein soll.
Wie definiert sich also der subjektive Wert von Freiheit?
Denn eines scheint gewiss: Hätten die Besucher die Wahl, durch Zäune und Schranken eingepfercht zu werden, oder den Weg frei zum Strand wählen zu können. Würden nicht alle, auch die Millionäre, Letzteres wählen? Würde das „Produkt“ Weißenhaus, wirtschaftlich gesehen, ohne dieses Reglement nicht genauso funktionieren? Wenn nicht sogar besser?
Das allerdings würde nicht für eine Werteverschiebung, sondern für eine Wertminderung, eine Entwertung sprechen.
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In meinen Erinnerungen drängt sich mir ein letztes Mal ein Bild auf. Es ist das aus den alten Tagen. Lichtdurchflutet zeigt es einen Wald, dessen Panorama die Wellen sind. Zwischen den Bäumen und dem aufwallenden Gras liegen unsere Surfbretter... was für ein magischer Ort.

„Hast Du eine Ahnung, wie weit es noch ist?“
Die Frage von Benjamin reißt mich aus meinen Gedanken und bringt mich in eine nicht geringe Verlegenheit. In der Tat bin ich in der Hinsicht ein wenig ratlos. Mittlerweile ist es 23 Uhr, und mein Erfahrungsschatz verflüchtigt sich mit einem Blick auf die mir unbekannte Landschaft.

Vor gut 3 Stunden haben wir uns nach Klitmöller aufgemacht, aufgemacht zum letzten großen Versprechen.


Quellen:
* Karl Marx(1818-1883): Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Nikol Verlag 2011
* Guy Debord (1919-1994): Die Gesellschaft des Spektakels; 1967 pdf Format, Quelle: http://offene-uni.de/archiv/textz/txtz.htm
* Matrin U. Müller: Im Sand verbuddelt, Spiegel 02/13 S. 66,67 ; 2013
* Gesine Enwaldt und Kersten Schüssler: Die Macht der Millionäre; 2013, Quelle: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/45_min/videos/minuten1071.html
* Walter Benjamin (1892-1940) : Das Passagen - Werk, 2 Bde. Suhrkamp Verlag; 1982
* Theodor W.Adorno / Max Horkheimer: Dilalektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Abs. Die Kulturindustrie, Fischer Taschenbuch Verlag; 2004
* Roger Behrens: Zur kritischen Theorie, I can´t relax in Deutschland, Quelle: http://www.icantrelaxin.de/texte/text-zurkritischentheoriederpopkultur.html
6) Das Krankheitsbild der Aufklärung, das Adorno (1903-1969) und Horkheimer (1895-1973) im Jahrhundert zuvor aufdeckten, indem sie unter anderem die Machtlosigkeit gegenüber dem totalitären Anspruch des Kapitalismus beschrieben, hatten sie richtig diagnostiziert. Mag der Einzelne das System noch so sehr durchschauen und kritisieren, überleben kann nur der, der sich diesem anpasst. Die damals entstandene Dialektik liest sich wie eine Blaupause zu unserer jetzigen Zeit, auch im Hinblick auf die dumpf empfundene Entfremdung und die allgegenwärtige Frage nach Freiheit.
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